Eva und Erik schauten aus sicherer Entfernung wie die Forensiker ihre Arbeit aufnahmen. Es war immer wieder faszinierend zu sehen, wie sie sich Zentimeter um Zentimeter an dem Tatort heran arbeiteten. Immer wieder blitzte die Lampe der Kamera, das leise Murmeln des Videografen der seine Kommentare sprach, das Winken der erste Ermittler wenn sie meinten eine Spur gefunden zu haben, alles Beweise großer Professionalität. Was aber noch viel beeindruckender war, jedenfalls aus Evas Sicht, war die Tatsache, dass es trotz der offensichtlichen Sorgfalt und anscheinende Trägheit schnell voran ging.

Direkt am Absperrband hatten Bengt und sein Team ein großer Tisch aufgebaut. Alles was gesammelt und eingetütet worden war, wurde hier noch einmal auf neutralem Untergrund fotografiert und eine erste, oberflächigen Untersuchung unterworfen.Dabei fiel auf, dass die Beweisbeutel unterschiedlich gefärbte Aufkleber bekamen.

„Weißt du warum die unterschiedliche Aufkleber benutzen?“ fragte Eva Erik.

„Prioritäten für das Labor, nehme ich an,“ antwortete Erik.

Eriks Telefon klingelte. Er machte einige Schritte zur Seite und hörte zu. Mehr als ein Gelegentliches Ja oder Nein drang nicht zu Eva durch. Das Gespräch war beendet.

„Mein Vater möchte dich sprechen,“ meinte er, als er sein Telefon wegsteckte.

„Dein Vater?“

„Naja, der Mann der meine Mutter geheiratet hat,“ korrigierte Erik. „Auch wenn er nicht mein Vater ist, er ist es doch, wenn du verstehst was ich meine.“

„Ich glaube schon. Schließlich bin ich Psychologin,“ sagte Eva mit ein Grinsen im Gesicht.

„Dann gehen wir,“ meinte Erik. „Die sind hier noch lange beschäftigt und wir stehen die nur im Wege herum. Und es gibt ein Frühstück, meinte mein Vater.“

Die Fahrt zum Haus wo Erik und seine Familie wohnten führte Eva in einer Gegend die sie seit Jahren nicht besucht hatte. Vieles hatte sich geändert, doch bestimmte Merkmale blieben unverändert. Der Futtersilo der damals als neues Gebäude fast ein handfesten Streit zwischen Evas Vater und den Nachbarn über die Grundstücksgrenze ausgelöst hatte war inzwischen alt und sah eher einsturzgefährdet aus. Sie erinnerte sich noch wie ihre Mutter und die Nachbarin gemeinsam den Streit begraben hatten bevor der richtig ausgebrochen war.

Mit der Erinnerung kamen auch irgendwelche Gedanken zu Erik auf. Er war etwas jünger als sie und sie meinte sich plötzlich zu erinnern, wie im Dorf darüber geredet wurde als der alte Lundqvist dieses junge Mädchen geheiratet hatte. Als dann kaum sechs Monate später ein Kind geboren wurde, hatte manch einer es sich nicht verkneifen können den alten Lundqvist als Lustmolch zu schildern. Doch Eriks Bemerkung, er hätte halt seine Mutter geheiratet ließ in ihr den verdacht aufkommen, dass die Geschichte die im Dorf die Runde getan hatte nicht die ganze Wahrheit, wenn überhaupt etwas Wahres, wiedergegeben hatte.

Erik drehte ein Waldweg ein und nach einige hundert Metern erreichten sie eine kleine Gruppe von Häusern. Jättehult, Heim der Riesen, damals ein mit Schauergeschichten umgebenen Ort mit deren Bewohner keiner so recht etwas anfangen wollte.

Sie stiegen aus und Eva folgte Erik hinterm Haus. Der Tisch war gedeckt und Eva erkannte der alte Lundqvist sofort.

„Sven Hägar, das ich Dich noch einmal sehen würde. Nie gedacht!“

„Sugrör, das Vergnügen ist auf meiner Seite!“

Eva zuckte zusammen als der alte Lundqvist sie bei ihr Spitznamen nannte. Viel gute Erinnerungen hatte sie daran nicht. Nachdem sie mit ihr Fahrrad böse gestürzt war, hatte sie längere Zeit nur durch ein Strohhalm ihre Nahrung aufnehmen können und so wie das eben auf ein Dorf geht, hatte sie schon schnell den Spitznamen Strohhalm bekommen. Sehr hilfreich war die Tatsache, dass sie lange und spindeldürr gewesen war da auch nicht. Andererseits, Eva war eine so weit verbreitete Namen in der Zeit, dass kein Eva je Eva genannt wurde. Sie hatte noch Glück gehabt, erinnerte sie sich jetzt. Eine andere Eva aus ihre Klasse wurde Pussboll, Knutschkugel, genannt. Nein, dann war Sugrör doch besser.

„Ach Brumba, so hat mich schon seit Jahren keiner mehr genannt,“ meinte Eva. „Aber woher wußtest du, dass ich Erik getroffen habe?“

Sven Hägar schaute Erik an. „Du oder ich?“

Erik setzte sich. „Ich meinte gestern schon dich erkannt zu haben und als wir uns beim Essen unterhalten haben, habe ich Sven Hägar von unsere Begegnung erzählt. Keine Details natürlich, aber dann meinte er, man hätte dich früher Sugrör genannt und da wußte ich auf einmal genau woher ich dich kannte. Aber wieso nennst du Sven Hägar Bumba?“

„So wurde er im Dorf von jeder genannt, jedenfalls, wenn er nicht in der Nähe war. Komisch, es war aber nie negativ, eher respektvoll. Es schien so, als ob jeder wußte, dass er zwar brummte aber nie beißen würde.“

Sven Hägar lachte.

„Da hatten die Leute recht,“ meinte er. „Als Polizist konnte ich nicht zu offen freunde sein mit den Leuten, die ich dann später zur Gericht bringen sollte, aber mir war immer daran gelegen die Leute zu helfen.“

„Daran kann ich mich erinnern,“ meinte Eva.

„Aber warum wolltest du mich sprechen? Doch nicht um über Spitznamen und die gute alte Zeiten zu reden, oder?“

„Spitznamen schon, die gute alte Zeiten hat es aber nie wirklich gegeben, Das sind nur die Märchen die man sich erzählt. Man erinnert sich nur zu gerne an dem, was damals gut erschien, die Realität jedoch vergißt man nur zu schnell.“

Eva mußte Sven Hägar recht geben. Die Vergangenheit wurde nur zu oft von den Menschen idealisiert, alles war schön und gut, jedenfalls besser als heute und überhaupt.

Sven Hägar unterbrach ihre Gedanken.

„Kannst du dich erinnern, dass es hier schon einmal einen Mord gegeben hat?“

„Hier? Nein, nicht soweit ich mich erinnern kann,“ antwortete Eva. An Eriks Blick konnte sie sehen, dass auch er überrascht war.

„Hier hat es noch nie einen Mord gegeben,“ meinte Erik bestimmt. „Da hätte ich etwas von gewußt. Es gibt keine Akten davon.“

„Das es keine Akten im Archiv gibt, heißt nicht, das nichts geschehen ist. Es kann ja auch sein, dass vergessen wurde etwas im Archiv abzulegen und das es dann ebenso versehentlich zwischen alte Unterlagen auf ein Dachboden gelandet ist. Ebenso zufällig wurden die Unterlagen dann gefunden, als man den Dachboden mal richtig aufräumen wollte.“

„Es gab also ein Mord und der ist, wenn ich mich daran erinnern können müßte, geschehen als ich klein war und du hier Polizist.“

„Richtig. Es war vor der großen Polizeireform, die Zeiten von Martin Beck und der Reichsmordkommission. Du warst noch sehr klein als eines Tages der Lehrer der Schule hier im Ort verschwand. Vom einen auf dem anderen Tag war er spurlos und schon bald summte das ganze Dorf von Gerüchte. Er war mit eine Schülerin durchgebrannt, hätte in der Lotterie gewonnen und war ohne etwas zu sagen ausgewandert, oder auch beides, jedenfalls, er war und blieb verschwunden. Da er mit allem was er an Bewegliches hatte verschwunden war, erschien das Gerücht, er wäre einfach abgetaucht, nicht unrealistisch und da wir kein Hinweis auf ein Verbrechen hatten, sahen wir zunächst auch keinen Anlass groß zu ermitteln. Er war erwachsen, hatte außer seinen Job keine Verpflichtungen also, wenn er gehen wollte, sollte er gehen. Es kam ein neuen Lehrer, diesmal samt Familie, und die Ruhe kehrte wieder.“

Sven Hägar nahm einen Schluck Kaffee und biß in sein Brot.

„Das war aber nicht das Ende, du hast von einem Mord gesprochen.“

„Genau, das Ende kam als der Schnee verschwunden war. Eines Tages erschien bei mir im Büro ein junges Paar. Sie hatten sich im Wald vergnügen wollen und waren dabei auf etwas gestoßen, dass sie die Lust gründlich verdorben hatten. Wie sich herausstellte, hatten sie das, was vom Lehrer übrig war gefunden. Ein sauber abgelegten Stapel Kleidung, ein Geldbeutel und daneben, offensichtlich unbekleidet, die Reste des Lehrers. Zunächst glaubten wir an einen Selbstmord, doch mir wurde schnell deutlich, dass es nicht so einfach sein würde. Wenn er sich selbst das Leben hätte nehmen wollen, warum hatte er dann seine ganze Sachen mitgenommen und wo waren die geblieben? Wir haben die ganze Umgebung abgesucht und nichts gefunden und auch der alte Karlson, der damals mit allem handelte was nicht angewachsen war, hatte nichts von den Sachen gefunden. Ich habe ihm mehrmals befragt und, ehrlich gesagt, nicht immer freundlich angesprochen, aber er blieb dabei, er hatte die Sachen weder verkauft, noch überhaupt gehabt. Ich glaubte ihm. Und da war noch etwas komisches. Es fehlte eine Hand.“

„Tierfraß?“, fragte Erik.

„Nein, der Hand war sauber abgetrennt, jedenfalls meinte das der Arzt der die Reste untersuchte. Und dann fand man ein kleines, rundes Loch in seinem Schädel, wie von einem Kugel, aber nicht von einer Waffe abgeschossen. Damit war es eindeutig Mord, es fehlte aber an allem. Kein Motiv, keine Tatwaffe, kein Tatort und vor allem, kein Verdächtiger. Schließlich wurde die Akte offiziell geschlossen und zur Seite gelegt, wobei wir der Formhalber sein Fall immer noch als ungeklärtes Verschwinden führten. Irgendwie hatte keiner im Dorf Lust die Mordkommission ins Haus zu holen und da es keine trauernde Angehörigen gab, blieb die Akte in meinem Schreibtisch.“

„Und warum kommst du jetzt damit raus?“ wollte Eva wissen. „Meinst du, es gibt da einen Zusammenhang?“

„Es ist auf den Tag genau 50 Jahre her, dass er verschwand,“ meinte Sven Hägar „und irgendetwas in meinem Bauch sagt mir, dass die beide Fälle zusammenhängen.“

„Ach Vater,“ meinte Erik. „Wie soll ich das je in einem Zusammenhang bringen? Wir wissen nicht einmal wer das Opfer ist. Nicht einmal ob männlich oder weiblich, wie alt, woher und überhaupt.“

Eriks Telefon klingelte. Er zog die Augenbrauen hoch als er die Nummer auf dem Display sah.

„Lundqvist,“ antwortete er kurz. Dann schwieg er. Er schaute Eva mit große Augen an und dann schaute er auf Sven Hägar.

„Ich bin gerade zuhause beim Frühstück und habe Frau Larson am Tisch sitzen.“

„Der ist auch hier, stimmt.“

„Hinten auf der Wiese ist genug Platz.“

„Ja, ich überprüfe das, bis gleich.“

Er legte sein Telefon weg.

„Ich habe keine Ahnung was los ist, aber wir bekommen gleich Besuch. Hohen Besuch, die wird eingeflogen. Und es war wichtig, dass ihr beiden hier bleibt.“

  • Fortsetzung folgt