Es war dunkel, obwohl die Sonne irgendwo hinterm Hoizont versuchte sein Licht auch auf dieser Seite der Erde zu bringen. Dunkel und feucht, leichte Nebelschwaden fegten über die Wiesen und das Wasser des Flusses, der die Gegend hier trotz der anhaltende Trockenheit Grün spendierte. Eva fühlte wie die Feuchtigkeit langsam aber sicher in ihre Kleidung zog, unangenehm, nicht naß, aber alles schien irgendwie feucht zu sein.

Während sie hinter einen Ermittler der Polizei her auf ein schmales Trampelpfad in Richtung einer Baumgruppe lief, gingen ihre Gedanken zurück nach ihrem ersten Fall, jetzt fast 25 Jahre her. Damals war sie frisch von der Universität, ein Master in Psychologie in der Tasche und unheimlich stolz sofort einen Job als Polizeipsychologin bekommen zu haben. Damals ahnte sie nicht, in welches Wespennest sie sich hinein begeben hatte.

„Wir sind da,“ meinte der Polizist und hielt am Absperrband. Der Tatort schien sehr weiträumig abgesperrt zu sein, denn von ein Verbrechen war hier noch nichts zu sehen, es sei denn, dass man die Reflexionen einzelner Blaulichter die noch drehten als ein Verbrechen gegen die Natur bezeichnen wollte.

Ein ihr unbekannter Polizist stand mit der Dokumentationsmappe am Rand.

„Dienstausweis bitte,“ forderte er sie zu ihrer Überraschung auf. Überraschung deswegen, weil sie sich nicht sicher war wann sie zuletzt an einem Tatortihren Dienstausweis hätte vorzeigen müssen, und ein wenig unangenehm, weil sie nicht wußte, ob sie den überhaupt eingesteckt hatte. Das Telefon hatte sie aus dem Schlaf gerissen und sie hatte in einen Reflex geantwortet, sich gleichzeitig realisierend, dass sie eigentlich gar kein Dienst hatte. Sie wußte sofort, dass etwas Großes passiert sein mußte, denn weder Gunnar, ihr direkten Chef, noch die Leitstelle würde sie sonst angerufen haben. Ihr Urlaub war Heilig, das wußte jeder, und sie wegen ein einfachen Mord zu wecken völlig unangebracht.

Ihre Überraschung war noch größer als sie feststellte, dass es weder Gunnar, noch die Leitstelle war die sie geweckt hatte. Es war ein örtlichen Polizist, den sie am Tag zuvor bei einer Verkehrskontrolle zufällig kennen gelernt hatte. Sie hatte ihm ihre Karte gegeben und er ihr ein Strafzettel wegen eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Danach hatten sie sich noch angeregt darüber unterhalten, dass hier im Mitten von Nichts, weit hinter dem Bretterzaun der das Ende der Welt markierte, nie ein Verbrechen geschehen würde. Warum auch, alles hier war friedlich, es gab keinen Streit, wenn man die gelegentliche Schlägereien nach Saufgelagen im Wald ignorierte, und überhaupt, welcher Verbrecher würde hier versuchen die Ruhe zu stören.

Er hatte ihr gefragt, was sie am Schwierigsten fand in ihrem Job. Die Toten, die Angehörigen oder die Täter. Sie hatte den Kopf geschüttelt, keiner der genannten drei machten ihr wirklich Probleme. Die Toten konnte sie nicht mehr helfen und ihr ursprüngliches Bestreben wenigstens für Gerechtigkeit zu sorgen hatte sie schon längst begraben. Gerechtigkeit war ein Traum von Idealisten die ignorierten, dass so etwas wie Gerechtigkeit immer vom persönlichen Empfinden des Betrachters abhängig war. Und Toten Gerechtigkeit zu verschaffen war deswegen unmöglich.

Anfangs hatte sie tatsächlich den Umgang mit Angehörigen als schwer erfahren. Eben wegen dieser Gerechtigkeit, die Frage nach dem „Warum“ konnte meistens geklärt werden, aber die Frage nach dem „Warum ausgerechnet mein Mann, Frau, Kind, Eltern,“ rief sofort eine andere Ungerechtigkeit hervor. Wieso wir und nicht jemand anderen? Schwarzer Peter mit dem Ziel, eine andere Familie als Opfer zu bekommen. Besser sie als wir. Als sie sich das realisiert hatte, war ihr Mitgefühl für die Angehörigen zwar nicht verschwunden, es war aber erheblich einfacher geworden damit umzugehen.

Blieben die Täter. Zugegeben, manchmal war es nicht einfach zu einem Täter durchzudringen, nachzuvollziehen wieso er oder sie zu der Tat gekommen war, aber das war nun einmal ihr Job, dafür hatte sie studiert, sie liebte die Herausforderung. Hinzu kam, dass sie davon überzeugt war, dass jeder Täter genau wußte, das seine Tat juristisches Unrecht war, auch wenn das System dieses Wissen manchmal als nicht vorhanden sah.

Mit einem Lächeln hatte sie erklärt, dass den Umgang mit Kollegen die meinten, eine Psychologin konnte sie bei der Aufklärung eines Verbrechens nicht behilflich sein, das Schwierigste war. Die würden solange alleine an etwas basteln, sich verrennen in irgendwelche Theorien und sich von ihre Emotionen zu einem vermeintlichen Täter führen lassen, bis sie festliefen. Erst als sie festgelaufen waren, die Beweise doch nicht so schließend waren wie sie wollten, wie für eine Verurteilung notwendig, dann kamen sie zu zu ihr. Entweder unter Druck von Vorgesetzten oder, was weit häufiger passierte, unter Druck der Öffentlichkeit. Widerwillig, viel mehr in der Erwartung, dass sie Monate nach einem Verbrechen mal eben nebenbei den von sie bereits identifizierten und gedanklich schon verurteilten Täter, mit psychologischen Tricks zu einem Geständnis bringen würde.

Die böse Reaktionen, wenn sie nicht sofort mit einem Täter reden wollte, sondern erst sorgfältig alle Ermittlungsakten durchwühlte und Punkt für Punkt ihr Finger an der Stelle hinein drückte, wo nicht zu Ende ermittelt war. Die gekränkte Eitelkeit die sie in den Augen deren sah, deren Arbeit sich als völlig unzureichend und von einer Tunnelvision geprägt herausstellte. Die bisweilen unverhaltenen Wut die sie in der eine oder andere Mordkommission entgegen schlug, wenn sie der Triumph der Lösung eines Falles zerstörte. Und nicht zuletzt die Arroganz, wenn ein Fall dann endlich doch gelöst wurde, mit welche die gleiche Beamten dann vor der Presse ihr eigenen Ermittlungsarbeit als Zielführend darstellten.

Das war am Schwersten, hatte sie ihm erklärt.

Und er hatte sie angerufen

Verzweifelt durchsuchte Eva ihre Taschen nach dem Ausweis, als aus einige Entfernung genau dieser Polizist rief, dass sie doch durchkommen sollte. Endlich, jetzt würde sie sehen, warum er sie gerufen hatte.

Minuten später bereute sie jetzt schon am Tatort zu sein.

  • Fortstezung folgt –